Neubauprojekt Königsplatz 55 und Wolfsschlucht
24-24a
(sog. Henschelhaus)
Zwischen Königsplatz und Wolfsschlucht
befand sich bis zum Frühjahr 2010 ein zweiteiliger Gebäudekomplex,
das sog. Henschelhaus. Der Gebäudeteil an der
Wolfsschlucht war eines der letzten historischen Zeugnisse in der Kasseler
Innenstadt und stand seit 1984 unter Denkmalschutz. Dennoch hatte ein Berliner
Projektentwickler den gesamten Komplex mit dem Ziel erworben, ihn abzubrechen;
als Mieter für den Neubau wurde das Hamburger Modehaus Peek &
Cloppenburg gewonnen. Die Stadt Kassel stimmte dem Abbruch zu, sofern nur die
Fassade nachgebaut würde; das Gebäude als zeit- und baugeschichtliches Dokument ging mit dem Abbruch
unwiederbringlich verloren, der Fassadennachbau wird in seinen Maßen ganz
erheblich vom Original abweichen.
Wolfsschlucht
24a, Hauseingang
Auch an der Seite zum Königsplatz ist
das Bauvorhaben nicht unproblematisch, da die Geschlossenheit des Baublocks
Königsplatz 53-55 durch den Neubau mit vollkommen anderer Geschoßaufteilung
empfindlich gestört werden wird.
Königsplatz
53 (links) und 55 (rechts)
Das historische Gebäude an der
Wolfsschlucht sei im Folgenden kurz vorgestellt:
Abb.1: Das
Gebäude Wolfsschlucht 24-24a
Wer war der
Bauherr?
Das Gebäude wurde in den Jahren
1921-23 von der Darmstädter und Nationalbank (Danat) errichtet,
als Anbau an das Brühlsche Haus (Königsplatz 55). In der linken
Hälfte befanden sich Geschäfts- und Direktionsräume,
in der rechten Hälfte Dienstwohnungen.
Abb. 2: Das
Brühlsche Haus am Königsplatz, 1910
Abb. 3: Der Erweiterungsbau, 1921
Warum
hieß es „Henschelhaus“?
Nach dem Zusammenbruch der Danat
1931 und der Zwangsfusion mit der Dresdener Bank wurde die Filiale aufgegeben.
Das Gebäude ging um 1939 in den Besitz der Nachlassverwaltung Karl
Henschels über und nahm nach dem Zweiten Weltkrieg u. a. die Henschelsche
Familien-Verwaltung GmbH auf.
Warum erhielt
es eine Fassade im längst veralteten Rokoko-Stil?
Die Fassade ist ein Erfolg der städt.
Bauberatungsstelle und des Denkmalschutzes: Ursprünglich
plante die Bank, das Brühlsche Haus durch einen großen
Neubau zu ersetzen. Aus Sicht der deutschlandweit operierenden Geschäftsbank
musste das Wohnhaus von 1770 nicht nur unzeitgemäß erscheinen,
sondern auch unwirtschaftlich und ungeeignet.
Zwar galt das Brühlsche Haus als bedeutendstes Rokoko-Gebäude
nördlich des Mains, aber warum hätten die fernen Verwaltungsstellen
in Berlin auf Kasseler Befindlichkeiten Rücksicht nehmen
sollen?
Doch damals gab es Rettung: Seit 1913 legte
die Stadtverwaltung großen Wert auf die Bewahrung eines
geschlossenen Stadtbilds, hatte 1915/16 ein „Ortsstatut gegen Verunstaltung“
verabschiedet und arbeitete eng mit der Bezirksdenkmalpflege zusammen. Gemäß
dem Ortsstatut musste sich jeder Neubau in seine Umgebung einfügen, die
historische Innenstadt stand unter besonderem Schutz.
Damit setzte die Stadtverwaltung ein preußisches
Landesgesetz um und folgte dem Beispiel zahlreicher anderer
Städte.
Im Fall der Danat setzte Bezirkskonservator
A. Holtmeyer durch, daß das Brühlsche Haus erhalten
blieb; und die städtische Bauverwaltung unter Stadtbauinspektor
Erich Labes machte zur Auflage, dass der Erweiterungsbau die
Schmuckformen des Hauptgebäudes übernehmen musste
– das erste Beispiel für die Anwendung des
Ortsstatuts in der Innenstadt! Zu diesem Ortsstatut und zu weiteren
Beispielen in der Innenstadt vgl.
ausführlich hier (Obere Königsstraße 13, Freiheiter
Durchbruch mit Wildemannsgasse und Die Freiheit 12, außerdem
Marställer Platz 1 und Obere Fuldagasse 16-18 = Vor der Schlagd 7-9).
Warum war das
Henschelhaus ein Kulturdenkmal?
Gemäß der Denkmaltopographie von
1984 „aus künstlerischen und städtebaugeschichtlichen
Gründen“ – dies ist eine berechtigte Einstufung, denn:
-
Das Gebäude
war (trotz mehrerer Veränderungen) eines der am besten
erhaltenen Beispiele für das „Bauen im Bestand“ in den
20er und 30er Jahren in Kassel. Es repräsentierte einen wichtigen
Aspekt jener Bauauffassung, die den damaligen Kasseler
Städtebau maßgeblich prägte: Man legte Wert auf die
Schaffung von Ensembles, griff ausdrücklich die lokale Bautradition
des 18. und frühen 19. Jh. auf und entwickelte sie weiter
(„Aufgeklärter Traditionalismus“,
E. Labes; vgl. zahlreiche denkmalgeschützte
Siedlungsbauten, z. B. an Ihringshäuser Straße,
Akademiestraße und Huttenplatz); in der historischen Innenstadt reichte
das Spektrum dabei (je nach Einzelfall) von einer bloßen Einpassung
der Neubauten bis zur Übernahme historischer Stilformen,
um auch dort Baugruppen und Ensembles zu bilden.
-
Die Fassade
überlieferte originalgetreu die Ornamente des
zerstörten Brühlschen Hauses, als unmittelbare
Abgüsse (die am Neubau wieder angebracht werden sollen).
-
Gleichwohl war
sie mit ihrer Biegung und der durchdachten Anordnung der Türen und Fenster
eine gute eigenständige Leistung des Architekten Karl Wittrock,
der in der Folge an zahlreichen Siedlungsbauten und
städtischen Projekten im „Aufgeklärten Traditionalismus“
beteiligt war.
-
Die Fassade war keine bloße Kulisse, sondern Anspruch
für die Innenräume: Diese wurden zwar zeitgemäß
konservativ gestaltet, aber mit Zitaten aus der Zeit um
1770; erhalten waren das Haupttreppenhaus und ein repräsentativer
runder Saal.
|
Abb. 4 und 5: Geländer und
Bögen im Treppenhaus
zitieren Gestaltungselemente aus der
Zeit um 1770.
War
das Gebäude mit bekannten Persönlichkeiten verbunden?
-
Der Architekt Karl
Wittrock ist mit seinen zahlreichen Kasseler Werken und seiner politischen
Tätigkeit (SPD) in Stadt, Regierungspräsidium
und Landesregierung mehrfach interessant.
-
Um 1929-33 hatte
hier der Rechtsanwalt Dr. Max Plaut seine Kanzlei, von hier aus wurde er
am 24.3.1933 durch die SA verschleppt und starb wenig später an den
Folgen der schweren Misshandlungen (an deren Ort in der Karlsstraße
erinnert daran eine Gedenktafel); der Fall erregte weltweit
Aufsehen und gilt (zusammen mit weiteren) als Auftakt des
NS-Terrors in Kassel.
Diese Informationen können hier als Handzettel
heruntergeladen werden.
Bildnachweis:
Chr. Presche (Bilder 1, 4 und 5); Alois Holtmeyer: Alt Cassel, Marburg 1913
(2); Stadtmuseum Kassel (3).
Weitere Innenansichten des Gebäudes:
Aufgang zum EG (bzw.
1. OG) |
Blick vom unteren
Zwischenpodest zum EG |
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Blick aus dem
Dachgeschoß zum oberen Zwischenpodest Die Form des Treppengitters
wiederholte sich auf beiden Podesten auch vor den Fenstern. –
Ursprünglich setzte über diesem Fenster die Dachschräge des
Satteldaches an, bis sie beim Wiederaufbau zugunsten des steileren
Mansarddachs ersetzt wurde. Der runde Saal im
Erdgeschoß (bzw. 1.Obergeschoß) Er gehörte
ursprünglich zu den Geschäftsräumen der Bank und wurde in den
1980er Jahren restauriert. Weitere Malereien
waren noch in den grünen Wandfeldern unter jüngeren Farbschichten
erhalten. Später diente
der Saal als Besprechungszimmer der Henschelschen Familienverwaltung und zuletzt des
Immobilienbüros Wickmann. Bildnachweis: Chr. Presche
(Treppenhaus); Initiative Pro Henschelhaus (runder Saal) |
Ein Handzettel mit Abbildungen des
Treppenhauses und des runden Saals kann hier
heruntergeladen werden.
Kurze
chronologische Übersicht: -
Sommer 2007:
Der Gebäudekomplex gehört noch der Deka Immobilien Investment GmbH in Frankfurt, die jedoch einen
Verkauf plant; erste Entmietungen sind in der Folgezeit Vorboten des
Eigentümerwechsels. Zugleich tritt die Bauwert Investment Group in Berlin in Verhandlungen mit der
Stadt Kassel über einen möglichen Neubau für Peek & Cloppenburg (Hamburg);
allen Beteiligten ist dabei bekannt, daß das historische Gebäude
Wolfsschlucht 24-24a unter Denkmalschutz steht. -
Sommer /
Herbst 2008: Im Denkmalbeirat der Stadt Kassel wird das Projekt behandelt; er
stimmt dem Abbruch des denkmalgeschützten Gebäudes unter der
Auflage zu, daß die Fassade erhalten bleibt oder (sofern nicht
möglich) originalgetreu wiederaufgebaut wird. Die erhaltene
Innenarchitektur (Treppenhäuser, runder Saal) ist der Denkmalschutzbehörde
entweder nicht bewußt oder wird gegenüber dem Beirat verschwiegen;
eine Innenbesichtigung des Gebäudes durch den Denkmalbeirat
findet nicht statt. -
Am 26. Febr.
2009 berichtet die Lokalpresse (HNA) über den geplanten Verkauf des
Komplexes; erwähnt wird lediglich der Abriß des Gebäudes
am Königsplatz, wobei aus
Denkmalschutzgründen die hintere Fassade erhalten bleiben müsse.
Daneben gebe es auch noch einen anderen Interessenten. Die Mieter
müssten aber in jedem Fall das Gebäude bis Ende 2009 räumen. -
Im Sommer 2009
werden die Verkaufsverhandlungen abgeschlossen (vgl. HNA vom 23. Juni 2009):
Die Bauwert Investment Group
erhält den Zuschlag; der zweite Interessent, der offenbar weiterhin
von einem Erhalt des denkmalgeschützten Gebäudes ausgeht, wird
demnach überboten und unterliegt. -
Wenige Tage
später begrüßt OB Hilgen die Planungen für das Modehaus:
Dadurch gewinne die Kasseler Innenstadt an Attraktivität. Die Stadt lege dabei Wert auf eine
architektonische Einpassung des Neubaus (HNA vom 28. Juni 2009). -
Mit Datum vom
4. Juli richtet der Arbeitskreis für Denkmalschutz und Stadtgestalt eine
Anfrage jeweils an OB Hilgen, Baudezernent Witte und Kulturdezernent
Junge (für den Denkmalschutz zuständig): zum einen wegen der
Einpassung der Königsplatzfassade, zum anderen wegen des historischen
Gebäudes; beigelegt ist eine Dokumentation über den
Königsplatz und die kunsthistorische Bedeutung der Fassade an der Wolfsschlucht.
Die historischen Innenräume sind zu diesem Zeitpunkt dem Arbeitskreis
nicht bekannt. -
Während
OB Hilgen das Schreiben lediglich an Bau- und Kulturdezernat
weiterleitet (Antwort vom 15. Juli), verweisen Junge und Witte auf die
Unterstützung des Projekts durch die Stadt, auf die Zustimmung der
Denkmalschutzbehörde zu Abriß und Nachbau der Fassade und auf
einen Architektenwettbewerb für die Königsplatzfront (Antworten vom
10. und 13. Juli). Junge beruft sich außerdem auf die Diskussion im
Denkmalbeirat und darauf, daß im Inneren des Gebäudes denkmalkonstituierende Originalsubstanz
nicht mehr vorhanden sei; auch das Landesamt für Denkmalpflege sei
einbezogen worden. Die Bauvoranfrage liege inzwischen auch schon vor. -
Der
Arbeitskreis wendet sich daraufhin sofort an die Lokalpresse; am 21. Juli
beginnt mit einem ersten Artikel die kontroverse öffentliche Debatte, in
der der Baudezernent und die Denkmalschutzbehörde den Abbruch
verteidigen. In zahlreichen Leserbriefen verleihen Kasseler Bürger und Auswärtige
ihrer Empörung darüber Ausdruck, daß das denkmalgeschützte
Gebäude zum Abbruch freigegeben wird, und daß eines der letzten
historischen Bauwerke der Innenstadt kommerziellen Interessen geopfert werden
soll. Die Apotheke im Henschelhaus wird zum Anlaufpunkt schockierter und
aufgebrachter Bürger, und in relativ kurzer Zeit kommen 1840
(später 4000) Unterschriften gegen den Abbruch zusammen (ohne
daß gezielt gesammelt würde). Weder der OB noch die zuständigen
Dezernenten wollen die ersten Unterschriftenlisten entgegennehmen,
so daß sie schließlich im Amt für Stadtplanung und
Bauaufsicht abgegeben werden. Es formiert sich eine
Bürgerinitiative. -
Am 12. August
wird die Bauvoranfrage von der Stadt positiv beschieden; Auflage sei,
die historische Fassade zu erhalten oder zumindest detailgetreu zu
rekonstruieren. -
Für den
13. September plant der Verf. (innerhalb eines größeren
Rahmenprogramms mit mehreren Veranstaltungen) eine Führung zu den
erhaltenen Gebäuden der 20er und 30er Jahre in der Innenstadt, um den
historischen Kontext des Henschelhauses darzustellen; jenes Rahmenprogramm
wird aus ungeklärten Gründen jedoch weder von HNA noch Extra-Tip
bekannt gegeben, die öffentliche Wirkung der Führung bleibt damit
aus. -
Am 13. Oktober
richtet die Bürgerinitiative ein Schreiben an alle Stadtverordneten, mit
den Ergebnissen der weiteren Recherchen zur Gebäudegeschichte und zur
(bau-)historischen Bedeutung des Hauses. Für den 5. November kommt das
Thema daraufhin auf die Tagesordnung des Ausschusses für
Stadtentwicklung und Verkehr. -
Am 5. November
berichtet die HNA über den erhaltenen historischen Saal des
Gebäudes und darüber, daß der Denkmalbeirat ohne Kenntnis der
historischen Innenräume dem Abbruch zugestimmt hatte. In der
Ausschußsitzung am selben Tag spielen die Innenräume allerdings
nur eine untergeordnete Rolle; die Fragen werden vom zuständigen
Baudezernenten nur unzureichend beantwortet, dennoch stellen die
Ausschußmitglieder keine bzw. kaum relevante Nachfragen. Wesentliche
Punkte werden damit erst gar nicht diskutiert. Allerdings wird der Antrag
gestellt und (zur Beratung in der Stadtverordnetenversammlung)
angenommen, vor weiteren Entscheidungen zunächst eine Innenbesichtigung
vorzunehmen; der Termin wird für Anfang Dezember angesetzt. Außerdem
sei der Wettbewerb für die Königsplatzfassade inzwischen
entschieden; die Untere Denkmalschutzbehörde kündigt an, daß
die Ergebnisse nach der Überarbeitung öffentlich vorgestellt werden
sollen. -
Am 9. November
beschließt die Stadtverordnetenversammlung einstimmig, daß
vor weiteren Planungen und Beschlußfassungen erst eine Ortsbegehung
durch Denkmalbeirat und Ausschuß für Stadtentwicklung und
Verkehr erfolgen solle. -
Die
Ausstellungseröffnung der Wettbewerbsergebnisse am 1. Dezember wird
kurzfristig abgesagt; die beschlossene Innenbesichtigung findet erst im
Februar 2010 statt. -
Die
Bürgerinitiative Pro Henschelhaus reicht im Januar 2010 eine Petition
beim Hessischen Landtag ein; für den Zeitraum der Petitionsbearbeitung
gilt eine Verfahrenssicherung, d.h. daß solange seitens der Stadt
Kassel keine Bau- und Abbruchgenehmigungen erteilt werden dürfen, bis
über die Petition entschieden ist. -
Im März
2010 scheitert die Petition im Petitionsausschuß, wenige Tage
später wird die Abbruchgenehmigung erteilt. -
Am 26.
März werden die Entwürfe für den Neubau veröffentlicht;
die Front am Königsplatz bestätigt die Befürchtungen, und der
Nachbau der historischen Fassade an Kölnischer Straße und
Wolfsschlucht weist zahlreiche Größenverschiebungen auf; insgesamt
wird die Nachahmung über 1m höher als das Original und vermischt
zudem willkürlich die Bauzustände von 1923 und 1955; von der
zugesagten detailgetreuen Rekonstruktion, die nach Aussagen der Stadt sogar
als Bedingung im Bauvorbescheid gefordert worden ist, kann angesichts der
Abweichungen keine Rede mehr sein. - Vgl. zu den Entwürfen die Pressemitteilung
des Arbeitskreises für Denkmalschutz und Stadtgestalt vom 28.3.2010. -
Am 26. April
2010 beginnen die Abbrucharbeiten.
|
Überblick über die Liste der
einzelnen, hier angeführten Links:
-
Handzettel
zum sog. Henschelhaus, Wolfsschlucht 24-24a
-
Rundes
Zimmer und Treppenhaus
-
Bauen im
historischen Bestand. Neubauten der 20er und 30er Jahre im Gebiet der Kasseler
Innenstadt
-
Pressemitteilung
des Arbeitskreises für Denkmalschutz und Stadtgestalt vom 28.3.2010.